Das Ruinentagebuch - Ordnung im Gespinst des Verfalls
Ruinentagebuch - Eintrag 1. Tag
Erst bis zu 100 Stunden nach dem Todeseintritt des Menschen sind auch sämtliche Zellen seines Körpers abgestorben – der sogenannte biologische Tod ist eingetreten.
Ich sage, der beginnt schon mit der Geburt. Sterben ist immer und sehe ich auf die Ruinen, dann sehe ich nicht das Ende, dann sehe ich auf das, was immer schon war. Sterben ist immer.
Lasst mich Ordnung schaffen im Gespinst des Verfalls.
Endleben, schläfst du oder bist du tot?
Ruinentagebuch - Eintrag 2. Tag
1 Klassifikation: (Nasse Füße) Quellruine
Referenzpunkt: Reiterhalle
Kontinuierlicher Wasseraustritt, die Gummistiefel bleiben einem stecken, Bodenplatte gesenkt,
Dom-förmige Hügel, Holzkadaver.
Feuchtes Kraut.
Ruinentagebuch - Eintrag 3. Tag
2. Klassifikation: Sickerreich
Referenzpunkt: Lagerhalle altes Sanatorium
Tiefgründige Hanglage, zum Betreten zu gefährlich, Mineralien kapern Gebälk, alles versinkt unter der weichen Oberfläche, Wasserzufluss aus einem Rohr (woher?), ergießt sich in einer Mulde, es riecht sauer und kalkig.
Ein Salamander unter dem Zweig eines Farnes.
Ruinentagebuch - Eintrag 3. Tag
3. Klassifikation: Verrinnungsstrom
Referenzpunkt: Zimmer im Pastorenhaus
Geneigte Fläche, wird aus dem Gebäude herausgeschoben, unsicherer Tritt, aber ausreichend trocken, äußerst skurrile Zersetzung, Krümmungen und poröse Verbiegungen, eine seltsame Kraft ist am Wirken, die zerlegt in Partikel und schafft Überwerfungen, die Dinge verlieren ihr Obdach, eine Kosmos aus Splittern.
Über kalkreichen Untergrund die Watte von Wollgras.
Ruinentagebuch - Eintrag 5. Tag
4. Klassifikation: Stauzone
Referenzpunkt: Postamt
Im Senkgebiet, die Waagerechte in äußerster Abwehr gegen den Zerfall der Senkrechten, ein offenes Netzwerk mit zeitweise starker Bewässerung, Giftstoffe dringen über die Lunge in den Kopf, Wahrnehmungsstörungen bis zu Halluzinationen, tragen die Gifte Vergangenheit mit sich? Ein Ort, der müde macht, Geschmack und Geruch wie in einer Batterie, Eisen und Mangan?
Ein Bienenvolk macht sich an einer lebensbesessenen Traubenkirsche zu schaffen.
Ruinentagebuch - Eintrag 6. Tag
5. Klassifikation: Tiefe Sohle
Referenzpunkt: Unteres Stockwerk Bauernhaus
Untergrund Sand und Kies, von unten zeitweise alles durchdringende Nässe, von oben Luftströme, die trocknen, schwermissbrauchtes Stockwerk, Zerfall im Minutentakt, teilweise hohe Zersetzung bis am Rande des Nichts.
Ein Kranich in schlafloser Wachsamkeit, denn alles Üble kommt von oben.
Ruinentagebuch - Eintrag 7. Tag
6. Klassifikation: Schlammsenke
Referenzpunkt: Bootshaus
Angeschlossen am Stillen See, der, weil er nicht mehr gestaut wird, ausgetrocknet scheint. Trotz Chaos sehr ebene Fläche, starke Verschlammung, relief-artiger Zusammenbruch, die Jungmoräne unter den Ruinen, keine Mitte.
Auf dem Steg ein Fischotter, der auf die Krebse schaut.
Ruinentagebuch - Eintrag 8. Tag
7. Klassifikation: Überflutungskammer
Referenzpunkt: Erdkeller
Periodisch eintretendes Wasser bis unter die Decke, schwach geneigte Talebene, naturnahe Reste, Apfelsäure, Muff, ein Korken schlechten Weins könnte nicht übler durch die Nase gehen, wie ein Tropfen Milch im Kaffee nur eine kurze Ordnung.
Am Eingang wehrt sich eine gelbe Schwertlilie mit ihrer starken Mittelrippe gegen das feuchte Ungemach.
Ruinentagebuch - Eintrag 9. Tag
8. Klassifikation: Kartenhaus
Referenzpunk: Gemeindehaus
Zusammenfall in sich hineinsackend, alles Verbissene kracht herunter, von unten stark porös mit hohem Rattenbestand, ein Knirschen, ein Flattern, die Stimmen in den Wänden so gegenwärtig wie Wind über Gras, eine weiße Krautschicht fegt den Boden, luftig.
Eine Bergkiefer schaut durchs Fenster rein.
Ruinentagebuch - Eintrag 10. Tag
9. Klassifikation: Moosschachteln
Referenzpunkt: Stall
Extreme Vermoosung, hochwüchsig, das Dach rieselt auf den grünen Grund, Geruch von Nähstoffen, Ketten schaben über den Kalkboden, Durchzug von allen vier Seiten, Fliegenscheiße unter den Fingern, der Streuboden will sich auf den Kopf setzen.
Eine Sumpfohreule zetert über Schlechtwetter.
Ruinentagebuch - Eintrag 11. Tag
10. Klassifikation: Himmelskomplex
Referenzpunkt: Kirche
Auf kleinstem Raum enorme Reliefunterschiede, hoher Wasserstand, nunmehr nur noch profanes Regenwasser, Vorkommen von Arten unterschiedlicher Standortansprüche auf engster Fläche, Eindruck von Zwischenstadium, es mag am offenen Blick zum Himmel liegen, denn was als erstes verschwand, war das Dach.
Smaragdlibellen umschwirren in großer Zahl die Kuppen aus Gras und Regenwasser.
Ruinentagebuch - Eintrag 12. Tag
11. Klassifikation: Schwingboden
Referenzpunkt: Schule
Geringmächtiger Untergrund, geradezu schwimmend, spürbar ein Wasserkörper unter dem Tritt, man fürchtet einen einzelnen Riss, der die vollständige Überflutung zur Folge hätte, man könnte Rasenmähen, ein ständiges Segeln gegen den Wind mit Hüfte und Kopf.
Stränge verschiedener kleiner und großer Wurzeln, Zwiebeln und Knollen in verästelter Ausbreitung. Nicht stürzen, mein Lieber!
Ruinentagebuch - Eintrag 12. Tag
12. Klassifikation: Baumraketen
Referenzpunkt: Laden
Eine einzelne Baumformation, atmosphärische Entladung, es riecht nach Stickstoff, nur eine Kiefer vermag diese Trostlosigkeit zu ertragen, Einsinken bei gleichzeitigem Festhalten an Stroh.
Eine Preiselbeere stakt auf sandig-steinigem Lehm herum.
Ruinentagebuch - Eintrag 12. Tag
13. Klassifikation: Hütewald
Referenzpunkt: Junge Siedlung
Durchflutet, locker mit Zeug versehen an vielen Stellen, sichtbare Trittspuren, aber schwer zuzuordnen, ungleichmäßiger Verbiss in den Hölzern, ein extrem fischartiger Geruch, Ammoniak? Der Wind pfeift scheppernd wie durch einen Stall.
Es stockt der Atem, eine große Sau steht vor mir, steckt ihren Rüssel in fremde Angelegenheiten.
Ruinentagebuch - Eintrag 13. Tag
Die Ruinen sind Röntgenaufnahmen von Endleben. Und sie wollen auch so gelesen werden! Man muss sich systematisch der Sache nähern, was sitzt an der richtigen Stelle, was ist verschoben, was tanzt aus der Reihe, wo ist der Knochenbruch, aber ohne die ideale Vorlage im Kopf, also ohne Referenzpunkt, ist alles nur Staub und Moder.
Und hast du gelernt, einmal so zu sehen, wirst du alles immer so sehen, denn Sterben ist immer.